Annika Koch im Gespräch mit Prof. Dr. Alexander Scharf und Diplom-Psychologin Anne Achtenhagen
Prof. Dr. Alexander Scharf ist Pränatalmediziner und leitet seit 2011 eine eigene Praxis für Pränatalmedizin in Mainz. Anne Achtenhagen ist Diplom-Psychologin und arbeitet seit 2009 in der PND-Beratungsstelle von donum vitae in Berlin. Wir sprechen mit beiden über die Möglichkeiten und Grenzen von Pränataldiagnostik, den Umgang der werdenden Eltern mit gesellschaftlichen und persönlichen Erwartungen und Ängsten sowie die Aufgaben von Pränatalmedizin und psychosozialer Beratung.
Herr Prof. Scharf, wer kommt zu Ihnen in die Praxis?
Alexander Scharf: Wir sind eine Spezialpraxis für pränatale Fragestellungen und formal betrachtet eine „Überweiserpraxis“, haben also keinen eigenen Patientinnenstamm. Immer dann, wenn eine Frauenärztin oder ein Frauenarzt eine spezielle Fragestellung hat im Zusammenhang mit Aspekten kindlicher Gesundheit oder des Zwischenspiels zwischen Mutter und Kind (fetomaternale Gesundheit), werden die schwangeren Frauen an uns weiterverwiesen. Die Fragestellung kann sehr medizinisch sein, sie kann aber auch sehr allgemein gehalten sein. Das Zentrum unserer Betrachtung ist das ungeborene Kind. Ich stehe in meiner persönlichen Grundhaltung sowohl der Schwangeren als auch dem Kind mit Achtsamkeit und Respekt gegenüber. Ich möchte gute Informationen zur gesundheitlichen Verfasstheit des Kindes liefern, und zwar so weit, wie die Patientin gehen möchte, und in der Tiefe, wie sie es für sich und ihr Kind wünscht. Ich bin ergebnisoffen. Meine erste Frage an die Patientin ist daher: „Was möchten Sie wissen? Was ist Ihnen wichtig? Wo liegt Ihre Erwartung und welches Angebot kann ich Ihnen machen?“
Frau Achtenhagen, zu Ihnen kommen schwangere Frauen und werdende Eltern. Wie finden sie den Weg in die psychosoziale Beratung?
Anne Achtenhagen: Unsere Beratungsstelle liegt in direkter Nähe zu einer Pränatalpraxis hier in Berlin. Sie wurde 2009 u.a. auf Betreiben der dort praktizierenden Ärzte gegründet. Wichtig ist, dass wir als Beratungsstelle unabhängig von der Pränatalpraxis sind und eigenständig arbeiten. Mittlerweile kommen 50 bis 60 Prozent unserer Klientinnen aus dieser Praxis, die anderen finden zu uns über das Internet, Mund-zu-Mund-Propaganda sowie Informationsmaterial, das in Praxen ausliegt. Hier ist viel Informations- und mitunter Überzeugungsarbeit zu leisten: Wir stellen uns in den gynäkologischen Praxen sowie Praxen für Pränataldiagnostik vor und informieren über unsere Arbeit. Generell kommen zu uns Frauen, Männer und Paare – auch ein werdender Großvater war schon mal in unserer Beratung.
Herr Prof. Scharf, welche weiteren Informationen geben Sie bei der Mitteilung über Auffälligkeiten beim Kind und welche Rolle übernimmt hier die psychosoziale Beratung?
Alexander Scharf: Ein Fetus mit einer gesundheitlich besonderen Situation – welcher Art auch immer – wird von der schwangeren Frau entsprechend bewertet. Damit muss sie umgehen. Und dies greift weit über die Medizin hinaus. Es geht hier um verschiedene Konstellationen: Mutter – Kind, Mutter – Partner, soziales Umfeld. Wenn das Kind erkennbar eine schwere Erkrankung hat, dann sind natürlich ganz andere Fragen auf dem Tisch. Jeder Weg – und es geht hier um komplexe Entscheidungsfindungsprozesse – wird von uns im wohlwollenden, empathischen Sinne begleitet. Das Ziel sollte sein, dass eine mögliche psychische Verletzung der Schwangeren bzw. der werdenden Eltern heilen kann. Die Begleitung in diesen Prozessen können wir Ärzte gar nicht leisten. Nach meinem Verständnis ist daher die psychosoziale Beratung obligat. Wir verweisen in diesen Fällen immer an die mit uns kooperierenden Beratungsstellen.
Haben Sie den Eindruck, dass in den vergangenen Jahren mehr Patientinnen zu Ihnen kommen? Besteht mehr Bedarf nach Sicherheit?
Alexander Scharf: Nach meiner Einschätzung ist der Beratungsbedarf etwas gewachsen. Mit der Einführung der NIPT (Anm. d. Red.: nicht-invasive Pränataltests) und seit 2022 der Übernahme als Kassenleistung bemerke ich eine deutlich höhere Beanspruchung. Viele Schwangere sehen da ihr Informationsbedürfnis gut abgebildet und abgedeckt. Diese Wahrnehmung ist jedoch verkürzt und kann auch trügerisch sein. Auf der anderen Seite bekommen immer weniger Frauen immer später immer weniger Kinder – da steigt naturgegeben der Bedarf. Ich denke, dass die Möglichkeit der Inanspruchnahme von pränataldiagnostischen Verfahren verhalten mehr wahrgenommen wird.
Anne Achtenhagen: In der Beratung bemerken wir einen erhöhten Bedarf nach Diagnostik, viele nehmen diese in Anspruch – mitunter auch eher unbedarft und nicht gut informiert. Das gilt für die gesamte pränatale Diagnostik, aber speziell für die NIPT. Hier waren Prof. Scharf und ich ja gemeinsam beim Runden Tisch NIPT aktiv.
Frau Achtenhagen, in welcher Phase der Schwangerschaft kommen die Klientinnen und Klienten in die Beratung? Welche Fragen und Ängste bringen sie mit?
Anne Achtenhagen: Die wenigsten kommen vor pränataler Diagnostik – hier bieten wir unsere Beratung ja auch an. Die meisten kommen während der Diagnostik, wenn ein Verdacht aufgekommen ist oder ein Befund vorliegt. Einige kommen nach der Diagnostik und auch nach einem Abbruch der Schwangerschaft, in einer Trauerphase. Dann versuchen wir, aufzuarbeiten, was während der Phase der pränatalen Diagnostik passiert ist. Bei den Menschen, die während der Diagnostik zu uns kommen und die wir in dieser Zeit begleiten dürfen, haben wir viele Möglichkeiten, sie umfassend zu informieren, ihnen Wege zur Unterstützung aufzuzeigen, Vernetzung zu anderen Betroffenen anzubieten oder auch zu weiteren Untersuchungen sowie einer zweiten oder dritten Meinung zu ermutigen. Wir begleiten den Entscheidungsprozess, klären Fragen – auch medizinische. Denn nicht immer sind die diagnostischen Informationen leicht zu verstehen. Zusätzlich stehen die werdenden Eltern unter enormem Stress und sind daher gar nicht unbedingt so aufnahmefähig für alle Informationen der Ärztinnen und Ärzte gewesen. Dies arbeiten wir auf. Wir schauen immer auf den individuellen Fall – wir holen die Menschen dort ab, wo sie momentan stehen.
Was ist dann konkrete Aufgabe der psychosozialen Beratung?
Anne Achtenhagen: Auffangen, den Prozess entschleunigen, ermutigen, sich Zeit zu nehmen und weitere Informationen einholen. Das sind kurzgefasst unsere Aufgaben. Die Frau bzw. das Paar muss sich neu orientieren in der Schwangerschaft. Diese Neuorientierung vergleiche ich gerne mit der Arbeit in einem Steinbruch. Gut passt auch das Bild vom Bergsteigen. Ich ermutige immer zu kleinen Schritten. Die Klientinnen sollen sich nicht den gesamten Berg anschauen, den sie besteigen müssen. Es braucht eine gute und intensive Vorbereitung, um sich auf den Gipfel zu trauen. Es braucht also Zeit. Da kommt ein Auf und Ab der Gefühle auf die Betroffenen zu – ich begleite und bestärke sie, Dinge zu akzeptieren, die man nicht ändern kann. Sie müssen für sich herausfinden, wie sie gut mit der unerwarteten Situation umgehen können und was die nächsten Schritte sind. Unsere Aufgabe als Beraterinnen ist es, gemeinsam mit den werdenden Eltern einen Plan zu entwickeln und ihnen zur Seite zu stehen.
Herr Prof. Scharf, besteht aus Ihrer Sicht großer zeitlicher Druck, der die Zusammenarbeit eventuell behindert?
Alexander Scharf: In unserer Praxis sehen wir die Patientinnen früh – unser Schwerpunkt liegt in der Frühdiagnostik. Da haben wir Zeit. Es gibt keinen medizinischen Notfall im Kontext einer kindlichen Erkrankung, sondern es handelt sich um einen psychosozialen Notfall. Aus medizinischer Sicht ist so viel Zeit, wie es eben braucht, um zu einer Entscheidung zu kommen. Wie Frau Achtenhagen eben gesagt hat: Es ist wie beim Bergsteigen. Eine andere Situation ist es, wenn es um Entscheidungen in der 23. oder 24. Schwangerschaftswoche geht. Gerade in diesen Situationen sollten wir keinen Druck ausüben. Die Betroffenen brauchen Zeit, um zu einer guten Entscheidung zu kommen. Diese Zeit müssen wir Ärzte ihnen geben. Hier ist es meine Aufgabe, schnell und niedrigschwellig an die entsprechenden Beratungsstellen zu vermitteln. Es muss immer die Zeit für eine gute, tragfähige Entscheidung gegeben werden.
Anne Achtenhagen: Ich bemerke häufig, wie sehr die werdenden Eltern unter Druck stehen, schnell diesen unerträglichen Zustand ändern zu wollen. Ebenso berichten sie mir von den Hinweisen und Informationen, die sie im Rahmen der Untersuchungen erhalten haben und die den Druck zu einer schnellen Entscheidung noch erhöhen können. Auch die Aussage „Ich habe keine guten Nachrichten für Sie!“ löst viel aus. Ich sehe hier einen gesellschaftlichen Druck auf den werdenden Eltern lasten, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Natürlich wünscht sich jede und jeder ein gesundes Kind. Aber wir können auch Wege finden, mit unerwarteten und veränderten Situationen umzugehen. Hier würde ich mir manchmal mehr Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen den Professionen wünschen. Die werdenden Eltern müssen eine tragfähige Entscheidung erarbeiten – das braucht Zeit.
Was braucht es noch für eine tragfähige Entscheidung?
Alexander Scharf: Ganz entscheidend ist es bei der Überbringung einer Nachricht, diese Informationen nicht zu werten – also nicht im Vorfeld eine Richtung vorzugeben. Da muss ich als Arzt auf meine Wortwahl aufpassen. Zu einer guten Entscheidung gehört die Annäherung an die Situation unter Betrachtung aller möglichen Wege. Mittlerweile tritt immer mehr die Option einer Palliation ins Bewusstsein – das war vor zehn Jahren noch anders. Es sollten alle Aspekte auf den Tisch kommen und gut gegeneinander abgewogen werden. Und in so einer Konfliktsituation ist ein Aspekt besonders zu beachten, den wir als Pränatalmediziner gar nicht bedienen können: die Paarbeziehung und ihre Dynamik in dieser Ausnahmesituation.
Anne Achtenhagen: Alles hängt davon ab, wo die Paare stehen, was sie sich zutrauen – die Beratung und Begleitung ist also immer sehr individuell. In jedem Fall müssen wir Beraterinnen die Räume öffnen, gut zuhören und verständliche Informationen über die Möglichkeiten geben: das Kind austragen und annehmen, eine Adoption, eine palliative Begleitung nach der Geburt, ein Abbruch der Schwangerschaft. Auch die Anzahl und Dauer der Beratungstermine bleiben individuell und im besten Fall gut abgestimmt an die jeweiligen Bedarfe der werdenden Eltern.
Welche Wünsche gibt es von Seiten der Beraterinnen an die Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten?
Anne Achtenhagen: Ich wünsche mir Akzeptanz und Anerkennung der psychosozialen Beratung. Wir freuen uns, wenn unsere Arbeit als wertvolle Unterstützung wahrgenommen wird.
Alexander Scharf: Die pränatalmedizinische Beratung ist tatsächlich nur eins von zwei Beinen, wenn bei einem Kind gesundheitliche Besonderheiten erkennbar werden. Da ist die psychosoziale Beratung für mich unverzichtbar.
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